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Sissi Syndrome: Ruhelose-Frauen-Depression, oder nur eine gute Geschichte?

Sissi Syndrome: Ruhelose-Frauen-Depression, oder nur eine gute Geschichte?

Daniel Faber

Wusstest du ...

 

... dass es eine bis heute umstrittene, atypische Subform der Depression gibt, die nach Kaiserin Elisabeth von Österreich benannt wurde?

 

Der Begriff „Sissi-Syndrom“ klingt klinisch, ist aber keine anerkannte Diagnose. Weder im ICD noch im DSM taucht er auf. Entstanden ist er Ende der 1990er Jahre als griffiges Etikett, verknüpft mit einer bekannten Figur: Kaiserin Elisabeth von Österreich („Sisi/Sissi“). Ihr öffentliches Image – ruhelose Reisen, strenge Diäten, Perfektionismus, ständige Aktivität – wurde genutzt, um einen angeblichen „weiblichen Depressions-Typ“ zu personifizieren: nicht verlangsamt und zurückgezogen, sondern getrieben und innerlich aufgewühlt. Das zog Aufmerksamkeit auf sich, weil es ein Klischee infrage stellte: dass Depression immer matt, apathisch und passiv wirkt.

 

Was sollte das „Sissi-Syndrom“ beschreiben? Kurz gesagt eine ruhelos erlebte Form von Leid – innere Anspannung, Insomnie, Hyperaktivität, unerbittliches Streben und hohe Selbstkontrolle. Die Erzählung suggerierte, manche leistungsstarken Frauen sähen nicht „depressiv“ aus: Sie funktionieren, performen und perfektionieren – und fühlen sich doch chronisch unruhig. Klinisch gedacht überschneidet sich dieses Bild mit Konzepten wie agitierter Depression, Angst-Symptomatik, Essstörungs-Merkmalen oder Aspekten des bipolaren Spektrums. Diese Muster sind real und werden ernst genommen – nur nicht unter dem Etikett „Sissi-Syndrom“.

 

Warum verbreitete sich der Begriff? Zeitzeugnisse verknüpfen seine Popularität mit Pharmamarketing und Medienberichten um 1998. Die Story war stark: eine ikonische Kaiserin, eine moderne „versteckte Depression“ und eine Behandlungsära, die unerkannte Belastungen benennen wollte. Diese Mischung aus Geschichte, Geschlechter-Narrativen und Pharmakologie wirkte – war aber mehr Erzählung als Evidenz. Wenn Labels über Schlagzeilen statt über Forschungskarrieren entstehen, drohen Stereotype (z. B. über „ambitionierte, überkontrollierte Frauen“) – und die Komplexität differenzieller Diagnostik wird glattgebügelt.

 

Was folgt daraus heute?

 


Erstens Klarheit: Das „Sissi-Syndrom“ ist kein anerkanntes Störungsbild. Kliniker:innen beurteilen Agitation, Schlaflosigkeit, Perfektionismus und Getriebenheit anhand etablierter Kriterien und differenzialdiagnostisch – nicht per Pop-Begriff.

 


Zweitens Empathie: Die Erfahrung, die das Label einfangen wollte – „Ich wirke funktional, aber innerlich komme ich nie zur Ruhe“ – ist real und häufig. Viele fühlen sich übersehen, weil ihr Leiden nicht dem gängigen Depressions-Stereotyp entspricht.

 


Drittens eine Frage: Wer prägt die Sprache psychischer Gesundheit – Forschung und Versorgung oder Kultur und Kommerz? Die „Sissi“-Geschichte erinnert daran, diese Kräfte nicht zu vermischen.

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